Disruptives Vorgehen im Schweizer Gesundheitssystem: Mehr Wunsch als Realität?
Der Druck im Schweizer Gesundheitssystem scheint (noch) nicht gross genug für eine radikale Veränderung. Anstelle von gegenseitigem Zuschieben der Verantwortung und Initiative sollte rationale Zukunftsorientierung Priorität haben. Alerion Consult ist auf die strategische Beratung im Gesundheitswesen spezialisiert und kennt somit zahlreiche Perspektiven.
«Die Schweizer Spitallandschaft steht unumstritten vor einer Strukturbereinigung», sagt Johannes Regenass, CEO und Hauptaktionär von Alerion Consult. Die beiden treibenden Hauptthemen sind klar: Kosten und Fallzahlen. Der Umgang mit den (steigenden) Kosten und die Anforderung an das Erreichen bestimmter Fallzahlen beschäftigt alle Marktteilnehmende und zeigt auch den zunehmenden Druck auf, dem diese aktuell ausgesetzt sind.
Die Digitalisierung macht auch vor der Gesundheitsbranche nicht halt und hat das Potential, das Gesundheitssystem zu revolutionieren.
Die Chancen, welche die Digitalisierung bietet, sind jedoch häufig nur komplementär bis additiv statt disruptiv. Einige Länder sind der Schweiz in dieser Thematik weit voraus.
Disruption oder Evolution?
Die Mehrheit der Branchenvertreter sieht eine Evolution im Gesundheitssystem voraus, wie eine Umfrage im Kundenkreis der Alerion Consult gezeigt hat. Nur knapp ein Viertel vertritt die Meinung, dass eine Disruption stattfindet. Julia Langguth, Senior Consultant bei Alerion Consult, erklärt den Unterschied dieser beiden Begriffe wie folgt: «Evolution ist eine Weiterentwicklung des bereits Bestehenden, während eine Disruption eine radikale Umgestaltung einer Branche, respektive eines Marktes, darstellt.»
Gern genannte Beispiele in diesem Zusammenhang sind Uber, die online-Plattform für die Vermittlung von Taxifahrten, oder Netflix. Beide haben mit ihren disruptiven Geschäftsmodellen den Markt einschneidend verändert.
Akteure im Gesundheitssystem
Alle Stakeholder-Gruppen, Versicherer, Leistungserbringer, Bevölkerung / Versicherte / Patienten, und Regulator / Staat, sind sich einig: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Aber man hofft, dass die Einschnitte erst die anderen treffen. Die Verantwortung, das Gesundheitssystem zu revolutionieren und einschneidende Veränderungen einzuleiten, gleicht einer heissen Kartoffel.
Die Politik reagiert in erster Linie auf diese Uneinigkeit der Akteure, womit retrospektiv immer wieder falsche Anreize gesetzt wurden. Umfassende Reformen sind derzeit nicht absehbar, oder haben es aufgrund des politischen Systems in der Schweiz traditionsgemäss schwer. Der Kostendruck erfolgt einseitig auf die Leistungserbringer, während gleichzeitig die Versicherungen kritisiert werden. Dieser punktuelle Ansatz ist nicht zielführend: Es braucht in der ganzen Wertschöpfungskette tiefgehende Anpassungen. Doch diese werden einerseits von der Schweizer Bevölkerung verzögert, die am Status Quo festhält und keine Abstriche eingehen will.
Beispiele dazu liefern die nicht stattgefundene Fusion KSBL / USB oder das Festhalten der Bevölkerung im Bezirk Affoltern a.A. an deren Spital – entgegen der Haltung politischer Meinungsträger. Anderseits erschwert die Mehrfachrolle der Kantone disruptive Entwicklungen.
Die Mehrfachrolle der Kantone
Kantone halten eine Spezialrolle inne. Als Eigentümer der Spitäler, Regulatoren und Tarifgenehmiger, Versorgungsplaner und -finanzierer jonglieren diese den politischen Willen der Bevölkerung, eine nachhaltige Finanzierung (auch ihrer eigenen Spitäler), Versorgungssicherheit und sind somit multiplen (teilweise gegenläufigen) Interessen ausgesetzt.
Integrierte Versorgung als Ökosystem-Ansatz
Mehr Kooperation und innovative Geschäftsmodelle zeichnen sich ab, der Konzentrationsprozess im Schweizer Gesundheitssystem hat begonnen.
«Das Schweizer Gesundheitssystem setzt zurzeit vermehrt auf Kooperationen und versucht über strategische Neupositionierungen erfolgreich am Markt zu agieren» beobachtet Johannes Regenass. «Doch aus wirtschaftlicher Perspektive können Synergien, Kosteneinsparungen und eine Steigerung von Fallzahlen insbesondere über Zusammenschlüsse und Fusionen erreicht werden. Dort sehen wir nach wie vor grosse Hemmungen seitens der Marktteilnehmenden. Dies im Leistungserbringer aber auch Krankenversicherungsmarkt. Der Drang nach Unabhängigkeit scheint nach wie vor stärker als der Kostendruck.»
Je grösser der Druck, desto einfacher fallen Veränderungen. Der noch moderate, aber zunehmende Veränderungsdruck ist allseits spürbar. Am zentralsten sind wohl die so oft zitierten, rasant wandelnden Kundenbedürfnisse. Ein aktueller Ansatzpunkt ist die integrierte Versorgung. Durch Kooperation der Marktteilnehmenden entsteht ein Netzwerk, welches sich um die Bedürfnisse der Kunden fügt und mit der richtigen Strategie zu einem digitalen Ökosystem heranwachsen kann. Im Fokus steht dabei die Customer Experience, ein positives Kundenerlebnis. Dabei soll so viel wie möglich automatisiert, integriert und digital funktionieren.
Was aus Kundenperspektive einfach und bequem klingt, ist notwendig und stellt aus Anbietersicht eine echte Herausforderung dar. Netzwerke entstehen per Definition nicht im Alleingang. Es braucht geeignete Partner, einen echten Dialog und die Bereitschaft, die hoch gewertete Unabhängigkeit für die vereinte Innovationskraft zu opfern. «Man kann die besten Spitäler, die beste Pflege, die beste Krankenversicherung der Welt haben und dennoch nicht innovativ sein, wenn die Akteure nicht aufeinander abgestimmt sind» stellt Julia Langguth fest.
Eine von Alerion Consult durchgeführte Umfrage bei den Branchenvertretern verdeutlicht die Brisanz: 40% der Teilnehmenden spüren einen mittleren bis sehr hohen Veränderungsdruck auf das Geschäftsmodell ihrer Organisation und geben gleichzeitig an, lediglich mittelmässig bis sehr schwach auf diese Veränderung vorbereitet zu sein.
Innovative Netzwerke basieren auf der Nutzung von datengetriebenen Technologien wie Smart Data oder künstliche Intelligenz. Grundvoraussetzung dafür ist das Vertrauen der Kunden. Wem vertrauen diese ihre Daten an? Kann das Schweizer Gesundheitssystem hier genug Kompetenz ausstrahlen, obwohl es im Bereich der digitalen Transformation klar nicht als Vorreiter gilt? Die Kunden ihrerseits sind durch die Digitalisierung immer besser informiert, fordern mehr Transparenz und werden selektiver.
Zudem stellt sich die Frage, in welchem Tempo sich das Schweizer Gesundheitssystem verändern kann. Durch die hohe politische Involvierung ist es einer systemischen Trägheit unterworfen. Doch sowohl aus medizinischer wie aus ökonomischer Perspektive haben die Ansätze eine klare Berechtigungsgrundlage. Wie muss Innovation erfolgen, dass neben den Kundenbedürfnissen auch die Anforderungen aller weiteren Stakeholder-Gruppen erfüllt werden, ohne dabei systemrelevante Marktteilnehmende «abzuhängen»? Wo liegt die Grenze zwischen Utopie und rationaler Zukunftsorientierung?
Ein Drahtseilakt
Organisationen im Gesundheitswesen konzentrieren sich durch die Verfeinerung und Erweiterung bestehender Kompetenzen und Geschäftsmodelle darauf, im gegenwärtigen Moment zu überleben (exploitation), während sie gleichzeitig darauf hinarbeiten, in einer Zukunft zu gedeihen, die neue Alternativen berücksichtigt (exploration). Die Balance zwischen Exploitation und Exploration ist in der Wissenschaft unter dem Begriff «Ambidexterity» bekannt. Die Digitalisierung von Geschäftsmodellen oder die dynamische Wettbewerbssituation sind nur zwei aktuelle Beispiele, die aufzeigen, dass die internen und externen Herausforderungen Organisationen dazu zwingen, exploitative und explorative Strategien und Massnahmen zur Sicherstellung des kurz- und langfristigen Erfolgs zu fokussieren: ein Drahtseilakt.
Praxisbeispiel
Alerion Consult durfte einen Sachversicherer im Rahmen einer Strategieentwicklung begleiten. Die erarbeiteten strategischen Stossrichtungen beinhalten auch explorative Elemente. Damit die Operationalisierung dieser Stossrichtung Erfolg hat, musste die bestehende Struktur dem innovativen Ansatz angepasst werden. Der Einsatz und das Engagement der Mitarbeitenden im Zusammenspiel mit einem visionäreren Führungsstil seitens der Führungskräfte versprechen einen nachhaltigen Wandel.
Fazit
Evolution statt Disruption scheint eher «typisch» für das Schweizer Gesundheitssystem, bringt aber keine wirkliche Veränderung. «Die momentanen Bemühungen bekämpfen die Symptome aber nicht die Ursachen», fasst Julia Langguth zusammen. Das Paradoxe: Jeder Akteur im Schweizer Gesundheitssystem weiss, dass etwas getan werden muss, aber jeder hofft, dass es nicht einen selbst trifft. Durch die starke Politisierung des Schweizer Gesundheitssystems besteht zudem eine gewisse Trägheit. «Bei unseren Kunden erkennen wir vermehrt, dass der Druck (noch) nicht gross genug für radikale Veränderungen ist», meint Johannes Regenass. Die Zukunft liegt in sinnvollen Netzwerken, respektive Ökosystemen, mit starkem Kundenfokus. Das gegenseitige Zuschieben von Verantwortung der Marktteilnehmenden ist wenig zielführend. Oft lohnt es sich, Initiative zu ergreifen und ein Risiko einzugehen, damit der Wunsch zur Realität werden kann.