Nachgefragt bei… Dr. Claudine Blaser Egger

Wie steht die Schweiz in Sachen Telemedizin im internationalen Vergleich da?

Telemedizin ist in der Schweiz seit über 20 Jahren fester Bestandteil in der Regelversorgung. Dies ist deshalb der Fall, weil die Rechte und Pflichten der ärztlichen telemedizinischen Leistungen dieselben sind wie bei physischen ärztlichen Leistungen.

Dies ist nicht selbstverständlich und in anderen Ländern nicht unbedingt gegeben. So hat z. B. unser Nachbarland Deutschland eine völlig andere Regulierung. Telemedizinische Leistungen sind daher insbesondere in der Regelversorgung in Deutschland aktuell nicht breit anwendbar und abrechenbar, wie dies in der Schweiz der Fall ist.

 

Welche Elemente der Telemedizin werden am ehesten von Patienten nachgefragt?

Die Patienten kontaktieren uns zu sehr verschiedenen Anliegen, recht ähnlich zu jenen, mit denen ein Hausarzt/eine Hausärztin oder auch Notfallmediziner kontaktiert werden. Dabei geht das Spektrum von Bagatellfällen bis hin zu schwerwiegenden akuten oder chronischen Erkrankungen.

Als Telemediziner sind unsere Ärztinnen und Ärzte «Hausärzte auf Distanz»; sie stellen Diagnosen, schreiben Befunde, stellen Rezepte und Arbeitsunfähigkeitszeugnisse aus, begleiten Patienten über eine längere Zeit als von Patienten gewählte «Lieblingsärzte». Wenn es medizinisch indiziert ist, erfragen sie nach einigen Tagen in einem Follow-up den Behandlungsverlauf und überweisen die Patienten an einen Spezialisten oder in eine physische Praxis, wenn das Anliegen telemedizinisch nicht abschliessend behandelbar ist. Im Schnitt können wir die Anliegen unserer Patienten in mehr als 50 % aller Fälle abschliessend behandeln.

Alerion Consult hat im Herbst 2023 eine Umfrage bei Leistungserbringern zum Thema «Ambulantisierungsgrad im Schweizer Gesundheitswesen» durchgeführt. Bei der Frage «Welche Partnerschaften und Kooperationen nutzen Sie, um Ihr ambulantes Angebot zu stärken und Synergien zu nutzen?» hat die Telemedizin mit 9 % am schlechtesten von den sechs Antwortmöglichkeiten abgeschnitten. Was sind die Hauptgründe aus Ihrer Sicht?

Ich sehe einen Hauptgrund darin, dass Telemedizin in der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten bisher kaum eine Rolle spielte. Inzwischen sind wir einen Schritt weiter: Gemeinsam mit der Universität Basel hat Medgate 2023 deshalb eine Vorlesungsreihe Digital Health & Telemedicine für Masterstudenten ins Leben gerufen und bietet zudem Assistenzärzten jeweils 6-monatige Rotationen als Telemediziner/in an. Die ärztliche Telemedizin ist heute fester Bestandteil des Schweizer Gesundheitswesens. Das soll sie in Zukunft auch in der Ausbildung der angehenden Ärztinnen und Ärzte sein.

Visionär gedacht: Wie sieht die telemedizinische Versorgung in 5 Jahren aus? Und was braucht es in der Umsetzung?

Technologisch werden wir nochmals einen grossen Sprung vorwärts machen können. Das wird v.a. auf Prozessverbesserungen und Qualität einzahlen. Künstliche Intelligenz wird Ärztinnen und Ärzte bei administrativen Aufgaben unterstützen, sie kann relevante medizinische Guidelines für den Arzt rasch verfügbar machen und damit die Diagnosequalität verbessern, sie kann bei Chatkonversationen unterstützen oder Behandlungspläne individualisieren. Damit können sich die Ärztinnen und Ärzten mehr Zeit für das wichtige Gespräch mit ihren Patientinnen und Patienten nehmen.

Für Patienten werden Services nutzbar, die sie einfach von zu Hause oder auch in einer Apotheke erledigen können. Sensoren können Vitalparameter an die Tele-Ärztin meines Vertrauens übermitteln. Für chronisch kranke Menschen oder solche, die aus dem Spital austreten, stehen «zu Hause im vertrauten Umfeld» rund um die Uhr telemedizinisch Ärzte und weitere Fachpersonen bei medizinischen Anliegen zur Verfügung.

Dank gemeinsamer Standards zur Datenübermittlung sind Ärzte und Fachpersonen in physischen Praxen und Spitälern unkompliziert in den telemedizinischen Behandlungsprozess eingebunden oder umgekehrt.

Patientinnen und Patienten spielen eine tragende Rolle im Behandlungsprozess, fällen gemeinsam mit dem behandelnden Arzt Therapieentscheide und beurteilen die durch die Behandlung gewonnenen, persönlichen Krankheitsverbesserungen. Damit kommen wir einer integrierten, patientenzentrierten und kosteneffektiven Behandlung einen guten Schritt näher.